Editorial | poet nr. 8
Von der Sprache leben
Wie erleben Schriftsteller anderer Ländern die deutsche Sprache und Literatur? Gibt es den kosmopolitischen Autor oder wird angesichts einer alles nivellierenden Globalisierung das Regionale in der Literatur wichtiger? Schafft Sprache Heimat? Der Autor des
Weltensammlers, Ilija Trojanow, definiert im
poet-Gespräch Heimat als das, was im Text eines jeden Autors entsteht. Den deutschen Lesern attestiert er große Sympathien für »fremde« Namen und führt als Beispiel die in Berlin lebende Argentinierin María Cecilia Barbetta an.
Sie kommt im zweiten Interview zu Wort. María Cecilia Barbetta glaubt, dass gerade das Schreiben in der Fremdsprache als sprachlicher Filter wirkt, der es ihr ermöglicht, die argentinische Welt literarisch Revue passieren zu lassen. Wie auch Ilija Trojanow, Jan Faktor und Luo Lingyuan schreibt sie auf Deutsch.
Die Erzählerin Luo Lingyuan, 1963 in der chinesischen Provinz Jiangxi geboren und heute in Berlin lebend, möchte ein differenziertes Bild ihres Landes China vermitteln. Sie fühlt sich beiden Kulturen zugehörig und beiden Kulturen nicht ganz zugehörig. Für Jan Faktor wiederum war die gesellschaftlich-biografische Entwicklung entscheidend, der Weg von Prag nach Berlin (Ost). Eine Zeitlang nutzte er zwei Schreibmaschinen, eine fürs Tschechische, eine fürs Deutsche – bis es ihm zuviel wurde und er sich für die deutsche Sprache entschied.
Die südkoreanische Schriftstellerin You-Il Kang, Dozentin am Deutschen Literaturinstitut, bleibt hingegen ihrer Muttersprache treu. Als sie nach Deutschland kam, war sie in Südkorea längst eine bekannte Autorin mit Fernsehauftritten und Buchverfilmungen. So dient ihr die zweite Heimat als ein Rückzugsort, an dem sie unbehelligt arbeiten kann. Dass sie jemals auf Deutsch schreiben wird, glaubt sie nicht.
Über die Grenzen blickt der poet gewohntermaßen auch in seinem Dossier, das der russischen Gegenwartslyrik gewidmet ist. Alexander Nitzberg hat elf Dichter aus dem großen Stimmenchor ausgewählt und übersetzt. Immer noch, so Nitzberg, sei die zeitgenössische russische Lyrik hierzulande weitgehend unbekannt. Einen Grund sieht er darin, dass die russische Lyrik artifizieller sei und mit größere formaler Anspannung verbunden. Im Gespräch mit dem Moskauer Dichter und Verleger Maxim Amelin werden weitere Aspekte der facettenreichen Dichtung Russlands erörtert.
Neue deutschsprachige Lyrik steht am Anfang des Heftes und bietet in bewährter Weise eine Aufeinanderfolge etablierter und junger Dichter. Hans Bender, Wulf Kirsten, Richard Pietraß und Gerhard Falkner setzen Akzente – im Zusammenspiel mit der jungen und mittleren Generation ergibt sich ein lyrisches Leseabenteuer jenseits festgezurrter Positionen.
In der Prosa stellt der poet diesmal ausschließlich junge AutorInnen vor. Das hat nichts zu besagen – außer dass junge Erzählerinnen wesentlich die Gegenwartsliteratur prägen. Sollte es stimmen, dass an den Schulen die Jungen, gerade im sprachlich-literarischen Bereich, kontinuierlich zurückfallen, so scheint es logisch, dass diese Schreib- und Leseleidenschaft der Frauen auch im Literaturleben kenntlich wird. Darauf freuen wir uns.
Frühjahr 2010