POET NR. 08 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

  Neue Lyrik aus Russland

Geleitwort von Alexander Nitzberg

Geleitwort von Alexander Nitzberg Zeitgenössische russische Lyrik ist im deutsch­sprachigen Raum noch immer weitgehend unbekannt. Bereits die Rezeption der russisch-sowjetischen Moderne ist hierzulande lückenhaft und beschränkt sich auf eine Handvoll Namen, die – meist unter politischen Prämissen – aus einem großen Stimmenchor ausgewählt wurden. Dabei schien lange Zeit das Dissidententum, das Anschreiben gegen das Macht­system, ein Garant für Qualität zu sein. Und so herrscht heute, wo die ideologische Konstel­lation zwischen Rußland und dem Westen noch nicht scharf genug definiert ist, auch im Umgang mit der jüngeren russischen, zumal apolitischen Poesie eine gewisse Unsicherheit. Es werden keine vorschnellen Urteile riskiert, stattdessen lieber verstorbene Veteranen, wie Josef Brodsky, Gennadij Ajgi und Dmitri Prigow bemüht, die doch selbst ein Produkt jener simplifizierenden Kanonbildung sind.

Ein anderes Hindernis liegt im Bereich der Ästhetik: Russische Poesie hat kaum etwas mit dem Parlando der westeuropäischen Gegenwartsdichtung gemein. Sie ist artifizieller und mit einer großen formalen Anspannung verbunden, allein schon durch ihren ständigen Rückbezug auf die Traditionen der Klassik und der Moderne. In ihrem bejahenden Aspekt ist sie rhapsodisch, in ihrem verneinenden minimalistisch. Zwischen diesen Polen ereignet sich viel: Zitate werden eingestreut, Archaismen und Versmaße lustvoll ausgekostet, die emotionale Skala von ­pathetisch-expressiv bis distanziert-ironisch ausgeschöpft – und alles durchzieht ein pulsierender, tönender Rhythmus. Auf das von Adorno erzogene Ohr wirkt das rhapsodische Element indes befremdlich und vermag die ohnehin wenigen deutschen Übersetzer russischer Lyrik abzuschrecken. Sie weichen dann gewöhnlich auf die "neutralere" Sprache der Minimalisten aus, ohne zu bemerken, daß deren Lakonie erst aus dem antithetischen Verhältnis zwischen den beiden Extremen heraus zu verstehen ist, die miteinander eine organische Einheit bilden, oft schon im Werk eines einzelnen Dichters.

Wie jede andere kann auch die vorliegende Auswahl nur fragmentarisch sein. Sie will elf unterschiedliche Gesichter vorstellen: 1. Maxim Amelin, einen subtilen Kenner der vorpuschkinschen Poetik, der in seinen Gedichten den krausen Barockton pflegt und – trotz der formalen Perfektion – die Sätze immer wieder Haken schlagen läßt. 2. Alexej Aljochin, einen Verfechter des in Rußland immer noch selten verwendeten vers libre, hier mit eher aphoristischen Schnappschüssen. 3. Irina Jermakowa, die, neben der St. Petersburger Dichterin Jelena Schwarz, vielleicht originellste weibliche Stimme im heutigen Rußland, deren Bilderfluten, bei aller Intensität, niemals exzessiv geraten, stets meisterhaft gebändigt werden. 4. Andrej Sen-Senkow, einen Lyriker vom "äu­ßersten Rand", der diese Rolle jedoch zu genießen scheint. In seinen labyrinthischen Metaphernkonstruktionen findet er augenzwinkernd noch die entferntesten und abstrusesten Analogien, ohne Angst, in den Nonsens abzugleiten. 5. Gleb Schulpjakow, dessen neuere Verse vom psy­chedelischen Nebel überzogen sind: vage Traumerinnerung an ­eins­tige Präzision, die nunmehr in Auflösung begriffen ist. 6. Iwan Achmetjew, einen Minimalisten, dessen Zeilen irgendwo zwischen object trouvé, Spruch und soziopolitischem Statement angesiedelt sind. 7. Sergej Neschtscheretow (einen Enkel des Akmeisten Michail Senkewitsch), dem die Anknüpfung an die imaginistische Tradition mit ihrer Dominanz des künstlichen oder sogar preziösen Bildes gelingt. 8. ­Wladimir Klimow, einen Wortakrobaten, in dessen Gedichten sich spielerische Naivität mit wohlkalkulierten plakativen Gesten mischt. 9. German Gezewitsch, der auf paradoxe Weise lyrisches Melos, kon­struk­tivistische Brüche und Kinderreime zu vereinen weiß. 10. Den St. Petersburger Dichter und Graphiker B. Konstriktor, einen seltsamen Sphärenwanderer, irgendwo zwischen fin de siècle, Popart und Taoismus. Und schließlich 11. Anatolij Grinvald, der in Leipzig lebt, und dessen Verse jene mystisch aufgeladene Luft des russischen Undergrounds atmen, die auch Boris Poplawski, einem Pariser Exil­literaten der dreißiger Jahre, nicht fremd war.

Die Übertragung orientiert sich an dem jeweiligen Stil des Ori­ginals. Vor allem aber will sie das klanglich rhythmische Gefüge im Deutschen nachschwingen lassen, in der Hoffnung, daß dies den "Sinn" stärker erfaßt als die Semantik allein.

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Alexander Nitzberg, 1969 in Moskau geboren, reiste 1980 nach Deutsch­land aus, studierte Germanistik und Philo­sophie. Er unter­richtet lite­rarisches Schreiben an der Heinrich-Heine-Universität und am Literatur­institut Hildesheim. Düssel­dorfer Lyrikpreis, Förderpreis zum Joachim- Ringelnatz-Preis, Ernst-Jandl-Poetik­dozentur Wien 2010. Zuletzt: Lyrik Bau­kasten. Wie man ein Gedicht macht (DuMont 2006).
 
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