POET NR. 09 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

  Neue Lyrik aus den Niederlanden

Einführung von Jürgen Nendza


Als mich Andreas Heidtmann fragte, ob ich mir vorstellen könnte, in einer poet-Ausgabe der zeitgenössischen niederländischen Lyrik ein kleines Forum einzurichten, war das gewissermaßen ein Glücksfall für mich. Sehr gerne, dachte ich und entschloss mich, eine subjektive, persönliche Auswahl zu treffen, ohne Anspruch auf einen vermeintlich repräsentativen Querschnitt (post-)moderner niederländischer Lyrik und auch ohne Ehrgeiz, „neue“ Schulen poetischer Wahrnehmung in unserem Nachbarland aufzuspüren. Doch zweifellos finden wir in den vor­liegenden Gedichten eigensinnige poetische Wahrnehmungskonzepte, die es allemal verdient haben, auch im deutschen Sprachraum entdeckt zu werden und ein wenig mehr in den Fokus der literarischen Öffentlichkeit zu treten. Die hier vertretenen Dichter sind in den Niederlanden längst keine Unbekannten mehr. Im Gegenteil, sie haben die niederländische Lyriklandschaft in den letzten Jahren maßgeblich mitgeprägt, alle sind für ihre poetischen Werke mehrfach ausgezeichnet worden. Manche der Autoren kenne und schätze ich seit Jahren, auf andere bin erst in jüngerer Zeit aufmerksam und schließlich neugierig geworden.

So zum Beispiel auf Menno Wigman, dessen Gedichte streng komponiert sind und durch Musikalität, Klang und Rhythmus bestechen. Seine Poesie bewegt sich am Puls urbaner Tachogenität und richtet den Blick auf die anämischen Ränder und Außenbezirke, auf Menschen im sozialen Abseits, aber auch auf ein Ich, das sich selbst zur Randerscheinung wird. Melancholisch, existentiell und mit produktiver Unruhe ­projiziert seine poetische Wahrnehmung immer wieder überraschende Bildwelten und Perspektiven, die aufhorchen lassen. Thomas Möhlmann indes skizziert in seinen Gedichten alltägliche Situationen, kleine szenische Abbreviaturen, die still und suggestiv ihre Bestimmtheiten unterlaufen, zu Möglichkeitsräumen und Suchbewegungen werden und sich aufzulösen drohen. Seine Lyrik entwirft ein vexierbildhaftes Ausleuchten von Dingen und Vertrautheiten, zu denen sie zugleich eine neue, zerbrechliche Nähe aufbaut. In der niederländischen Kritik wird seine Dichtung auch mit der Suche nach einer „Neuen Authentizität“ umschrieben.

Die Gedichte von Tonnus Oosterhoff hingegen sind ironisch verspielt, gespickt mit Verstößen gegen die Grammatik, abrupt im Ton, dann wieder sanft und singend und zuweilen an Aphasien erinnernd. Seine Gedichte brechen teils radikal mit den Schemata unserer Wahr­nehmung, kombinieren Wahrheit und Irrtum zu einem Puzzle und sind aufgeladen mit Bildwelten und Verweisen, die vermeintliche Kohärenzen sprengen und zum Beispiel TV-Ereignisse mit Al­chemie zusammen­führen.

Mit Albertina Soepboer treffen wir auf eine sprachliche Grenzgängerin ganz anderer Art. Sie dichtet auf Friesisch und Niederländisch und macht Mehrsprachigkeit zu einem zentralen Thema ihrer Poesie. Ein­geschrieben in ihre Gedichte sind aber auch Fragen nach weiblicher Identität, zudem ist das poetische Einvernehmen von Landschaft, vor allem der friesischen und skandinavischen, für sie von zentraler Bedeutung. Landschaft wird bei ihr zu einer Folie für metaphysische und mythologische Exkursionen und Selbst-Begegnungen. Ihre Gedichte haben eine klare, kühle Bildsprache und entführen immer wieder in rätselhafte Grenzbereiche.

Wie üppige Feste der Sinnlichkeit lesen sich Hans van de Waarsenburgs formbewusste Verse. Grundiert von Antrieben der Sehnsucht und Liebe verschmilzt bei ihm geerdete Trauer mit einem wuchtigen, trotzigen Aufbegehren gegen ­Verlust und Verdrängung, verbinden sich Realität und Surrealität zu einem Sog, der zu einer magisch anmutenden Reise in eine eigenwillige ­poetische Landschaft wird. Hans van de Waarsenburg, so schrieb Cees Nooteboom jüngst in einem Essay, „malt die Landschaft wie ein Ex­pressionist, er scheut keine Farbe und zeichnet zugleich ein Porträt seiner Stimmung, ein inneres Theater der Heiterkeit, des Genusses, der bezwungenen Verzweiflung und des düsteren Pathos, das eher an lateinamerikanische als an niederländische Lyrik erinnert.“

Sperrig, widerständisch und auf seltsame Art insistierend wirken auf den ersten Eindruck die Gedichte von Mark Boog. Stets scheint die Relation zwischen Sprache und Wirklichkeit aufs Spiel gesetzt zu werden. Seine Verwendung von Inversionen, Reihungen und Substantivierungen erzeugen eine Befremdlichkeit, die subtil Bedeutungsebenen verschiebt, um den irritierten Leser eindrucksvoll in seine großen (philosophischen) Themen einzuführen: das Leben, der Tod, die menschlichen Ab­gründe. Bei genauer Betrachtung sind dies die Koordinaten, an denen diese Dichter, jeder auf seine Art, ihre ungewohnt intensiven, energie­reichen Reibungsflächen entfalten.

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Jürgen Nendza, geboren 1957 in Essen, studierte Germanistik und Philosophie, promovierte und veröffentlichte neben zahlreichen Gedichtbänden Hörspiele und Erzählungen und ist als Herausgeber tätig. 1998 erhielt er den Meran-Lyrikpreis. Zuletzt erschienen im Jahr 2008 seine Gedichtbände Die Rotation des Kolibris und der zweisprachige Auswahlband Vlieggeluid/Flugtöne (niederländisch-deutsch).
 
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