POET NR. 14 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

 
Andrei Ruse

Mărioara

Georgie saß im Park am Nordbahnhof auf einer Bank. Als er sich damals entschlossen hatte, endlich sein Leben in die Hand zu nehmen und nach Bukarest zu gehen, hatte ihm niemand von diesem Ort erzählt. Niemand hatte ihm erzählt, dass durch diesen Park die Unseligen geistern, dass die Luft dort mit ihren Sünden geschwängert ist, die aus allen Worten die Unschuld saugen.
  Und Georgie bekam keine Angst, als – es waren keine zwei Minuten vergangen – ein Zigeuner ihn nach einer Ziga­rette fragte. Freundlich hielt Georgie ihm die offene Schachtel hin, froh darüber, dem anderen zu Diensten zu sein. Und dann hörte er, wie der Zigeuner sich mit ge­schmei­diger Stimme nach seinen Wünschen erkundigte. Wie wäre es, eine Frau? Dick? Oder lieber mager? Unrasiert? Oder noch jung, noch ein Mädchen? Eine, für die es das erste Mal …? Ober lieber ein Junge, mit glatter Haut, oder ein Junge, der zum ersten Mal …?
  Und Georgie ergriff nicht die Flucht, als er – wieder waren nur wenige Minuten vergangen – die nächste Stimme hörte, eine ebenso sanfte Stimme, die ihm alle möglichen Drogen verkaufen wollte, von denen er die Hälfte nicht einmal dem Namen nach kannte.
  Und er ließ sich auch von dem Handy nicht beeindrucken, das ihm angeboten wurde, weitaus günstiger, als es bei allen Telefongesellschaften zu haben war. Georgie ließ sich von überhaupt nichts beeindrucken.
  Die Erleuchtung erlebte er, als eine herunter­gekommene Frau sich auf die Bank vor ihm setzte. Sie trug einen Säugling im Arm, und noch ehe Georgie überhaupt der Gedanke kommen konnte, dass man wohl ziemlich verrückt sein muss, um seinen Säugling in diesem verdammten Park herumzutragen, hatte die spindel­dürre Tusse ihr T-Shirt hochge­schoben, hatte eine Titte heraus­geholt und sie ordentlich durch­geschüt­telt, damit das Kleine was zu trinken bekam.
  Die Vorstellung ist widerlich, aber als Georgie, dieser Assi, die Titte sah, wurde er tatsächlich für eine Zehntelsekunde scharf. Der arme Georgie hatte nämlich seit über einem Monat keine echte Titte zu Gesicht bekommen.
  Die Frau quetschte ihre schlaffe Brust, schlenkerte sie nach links und rechts. Dann platzierte sie den Säugling neben sich und bewegte die Titte auf ihren Mund zu. Da stillt diese dreißigjährige Schabracke mit dem verwit­terten Gesicht doch tat­sächlich sich selbst.
  Und Georgie kapiert, dass das hier keine Vorabendserie ist, dass das hier, Scheiße noch mal, Europa ist, eine verdammte europäische Hauptstadt. Und ihm geht ein Licht auf.
  Zuerst kapiert er, dass er nicht weiß, was Hunger ist. Klar, in den vergangenen neunundzwanzig Jahren hat er schon mal Heiß­hunger gehabt und auch mal dort, wo sich sonst sein Magen befindet, ein riesiges Loch. Aber was Hunger ist, weiß er nicht.
  Und er kapiert, dass er zwar nur noch acht Euro in seiner Hosentasche hat, mit denen er irgendwie hinkommen muss, bis er in ein paar Tagen seinen Gehaltsscheck kriegt, dass er aber trotz dieser lächer­lichen acht Euro nicht weiß, was Armut ist. Natürlich weiß er auch nicht, was Reichtum ist, aber mit Armut kennt er sich eben auch nicht aus. Okay, er hat mal draußen über­nachten müssen, davon hat er allerdings niemandem erzählt. Dann hat er zum Glück dieses Rattenloch am Arsch der Welt gefunden. Und jetzt kapiert dieser Assi, dass es ihm die ganze Zeit gut ging oder dass es ihm zumindest irgendwie ging und dass er wirklich keinen blassen Schimmer hat, was Armut ist.
  Und dieser Blödmann kapiert, dass er nicht weiß, was Schwierigkeiten sind. Klar, ab und zu hatte er mal einen Aussetzer, so was kommt vor, er war krank, aber er muss zugeben, todkrank war er nie. Na gut, er hatte Schmerzen, er musste sogar mal genäht werden, und er war bei allen mög­lichen Ärzten, darunter auch bei Spezia­listen für Geschlechtskrankheiten. Und er ist in die eine oder andere Schlägerei geraten, aber so ist das Leben, da hat man auch mal ordentlichen Liebeskummer, den man jedoch immer überwindet, früher oder später, je nachdem, mit wem man darüber reden kann. Aber richtige, ernsthafte Schweirigkeiten, die kennt Georgie nicht. Davon hat er keine Ahnung.
  Georgie kamen seine Saufkumpane in den Sinn, seine alte Dame, bei sich zu Hause, und seine kleine Janie, die um fünf mit dem Zug nach Hause kommt. All das kam ihm in den Sinn und gleichzeitig schiss er darauf.
  Er stand auf und lief los. Nicht zum Bahnhof – vergiss es, Janie! Zur Hölle mit dir und deinen großen grünen Augen. Er ging auch nicht in seine Stammkneipe. Und nicht nach Hause. Georgie lief einfach los und dabei hatte er das Gefühl, dass das Leben ihm gerade die wichtigste Lektion erteilt hatte. Auch wenn Georgie nicht hell genug war, um das ganze Ausmaß dieser Lektion zu begreifen, wusste er doch, da war etwas. Und das ist schon ziemlich gut für so einen Assi: Dass er weiß, da ist etwas, auch wenn er einen Scheiß davon versteht.
  Georgie wusste, dass ihn von nun an nichts mehr umhauen würde, selbst wenn ihm das Leben mal wieder übel mitspielte, und den armen Schluckern spielt es immer übel mit. Von nun an wäre alles anders.
  Georgie wusste, die Amis haben Hunderte, nein, Tausende Comic­helden und sie haben ihre Hollywoodstars mit dem perfekten Lächeln, und die Christen haben Gott und die Muslime Allah, die Schwulen haben George Michael und die Mädels mit ihren Hühner­brüsten haben Lady Gaga. Und er hat jetzt Mărioara, seine kleine Maria. Er hatte beschlossen, sie so zu nennen. Ihr echter Name tat nichts zur Sache. Sie hieß Mărioara, genau wie seine erste Freundin.
  Mărioara aus dem Park am Nordbahnhof wäre von jetzt an immer da. Sie soll seine Muse sein, sein Schutzengel, seine Göttin. Seine kleine Prinzessin, eine echte Prinzessin. Jeden Abend kommt sie runter, setzt sich neben sein wacke­liges, miefiges Bett, holt ihre schwitzige Titte heraus, zerrt sie nach oben zu ihrem Mund und saugt an ihr, stillt sich selbst.
  Wenn Georgie seinen Job auf dem Bau verliert, wird Mărioara ihn trösten. Wenn er wegen Diebstahls verknackt wird, schleicht Mărioara sich in seine Zelle und schmiegt sich an ihn, schmiegt ihre schlaffe Titte an ihn. Wenn die Kommunisten wieder an die Macht kommen, wie der Alte das vorhin behauptet hat – nur zu. Oder Basescu, soll er wieder­gewählt werden, sollen die Rumänen ihn so oft wiederwählen, wie sie wollen, diese gottverdammten Idioten, die sich mit Mehl und Olivenöl und ein paar Schoko­riegeln bestechen lassen.
  Komme, was wolle – Georgie war zum Mann geworden. Von nun an ist er ein Mann, der alles übersteht. Ein Mann, dem ein Zeichen Gottes gesendet wurde. Jahrelang hat Georgie gebetet, hat sogar gefleht. Und jetzt: Mărioara! Mărioara und ihre wunderbare Titte. Diese Titte, diese unvergleichliche Titte hat sein Leben verändert. Mărioara aus dem Park am Nordbahnhof, bei deren Anblick sogar der Tod höchstpersönlich sich bekreu­zigen oder sich einen Finger in den Hals stecken würde, wenn nicht gleich die ganze Sense.
  Jetzt beobachtet Georgie die Passanten. Er beobachtet die Autofahrer. Denkt über die ganzen Leute nach, die in den umliegenden Wohnblöcken ihr Dasein fristen. Und er weiß, dass sie nichts als ein Haufen Sack­gesichter sind und dass er zu den wenigen Auserwählten gehört, die wissen, was das bedeutet: Leben.
  Ja, Georgie kennt jetzt das Leben. Leben, das ist eine Mutter, die sich ihre Titte in den Mund steckt. Seine eigene Milch trinken, das ist das Leben.



Übersetzung: Ioana Vighi und Katharina Bendixen

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Sylvia Geist, geboren 1963 in Berlin. Studium der Chemie, Germanistik und Kunstgeschichte. Schreibt Lyrik, Prosa, Kritiken und übersetzt. Auszeichnungen u.a. Lyrikpreis Meran 2002, Stipendiatin im Künstlerhaus Edenkoben 2006, Adolf-Mejstrik-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung 2008. Zuletzt: Vor dem Wetter. Gedichte (Luftschacht Verlag 2009) und Letzte Freunde. Erzählungen (Luftschacht Verlag 2011).
 
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